Das Feuer brennt weiter

Der Münsteraner Dr. Amir Zahedi behandelte
in Bangladesch Symptome - doch die Ursachen bleiben

(aus: Westfälische Nachrichten, 19. Juli 2003)

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Neben den Bahngleisen führt ein schmaler Pfad von der Straße hinunter. Er führt zwischen Hütten aus Wellblech hindurch. Über kleinen Flammen köcheln Reisbrei-Gerichte. Vor den Hütten stehen kleine Kinder und beäugen die Besucher misstrauisch. Einige folgen den Fremden neugierig. Die Weißen – eine Abwechslung im Alltag der Menschen im Slum-Gebiet Gandaria im Süden von Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch.

In einer Hütte auf der rechten Seite des schmalen Pfads sitzt Nargis Akter auf einer kleinen Pritsche. Nargis ist 18 oder 19 Jahre alt, so genau weiß sie es nicht. Aber ihr Sohn Nupur, das weiß Nargis genau, ist zwei Jahre und drei Monate alt. Er kam wie sie in dieser Hütte zur Welt. Nur etwa ein Fünftel der Menschen in Bangladesch werden im Krankenhaus geboren.

Vor 30 Jahren kam die Familie von Nargis und Nupur nach Dhaka. „Wir hatten kein Land mehr“, erklärt Vater Shajian Akter, der etwa 44 Jahre alt ist. Deshalb suchten die Farmer ihr Heil in der Großstadt. „Ich bin nicht glücklich“, sagt Shajian jetzt, „aber es ist auch nicht allzu schlecht.“ Immer-hin, er hat Arbeit: als Sicherheitsmann auf dem Markt.

Seine Tochter Nargis, die junge Mutter, arbeitet nicht. Ihr Kind ist noch zu klein. Aber sie träumt „von einem besseren Leben“. Wie das aussehen könnte? Nargis, schüchtern, senkt den Blick. „Ich weiß es nicht.“

Wer aus der Hütte der Familie Akter kommt und sich rechts hält, kommt schon nach wenigen Metern zu einem gemauerten Haus mit Türen und zwei Ventilatoren unter der Decke. Am Montag- und Donnerstagmorgen richten die „German Doctors“ hier ihr Behandlungszimmer ein. Sechs Wochen lang gehörte der münsterische Orthopäde Dr. Amir Zahedi zum Team, das im Namen der Organisation Komitee Ärzte für die Dritte Welt in Dhaka arbeitet.

Morgens gegen 8.30 Uhr setzt er sich zusammen mit Dolmetscherin Jaheda an den kleinen Tisch und empfängt die Patienten aus den umliegenden Hütten. Sie haben Asthma, Wurmerkrankungen, Hautreizungen, Entzündungen, manchmal Krätze, die aussieht, als sei das ganze Bein schimmelig. Kleinste Verletzungen entzünden sich in dieser dreckigen Umgebung schnell, manchmal bis auf den Knochen. Die Ärzte reinigen Eiterherde, desinfizieren Wunden, verschreiben Salben und Tabletten.

Viele Symptome, mit denen die Menschen in Gandaria zum Arzt kommen, sind leicht zu behandeln. Doch die Ärzte wissen: Die Ursache bleibt, das schlechte Wasser, die mangelnde Hygiene, die verpestete Luft. „Wir verarzten die Brandwunden“, sagt Dr. Amir Zahedi, „aber wir löschen das Feuer nicht. Wir machen einen Verband und warten, bis der Nächste aus den Flammen kommt.“ Frust bei den Medizinern. Die Menschen leiden, ein Ende ist nicht auszumachen.

Dr. Amir Zahedi, der gebürtige Iraner, der seit 52 Jahren in Münster lebt, wollte helfen. Für sechs Wochen schloss er seine Praxis und zog in die spärlich eingerichtete Wohnung des Ärzte-Komitees im Stadtteil Kamalapur. Drei kleine Zimmer, ein schmaler Tisch unter einem Ventilator, eine kalte Dusche. „Das Schlimmste ist die Einsamkeit“, er-klärt der Mediziner an einem solchen Abend unter dem Ventilator. „Du kommst abends nach Hause, hast vielleicht 200 Patienten versorgt – und was sollst Du tun?“ Der Freizeitwert von Dhaka, vom Mittelschicht-Stadtteil Kamalapur erst recht, ist minimal. „Ich habe schon 18 dicke Bücher gelesen.“

Doch Dr. Amir Zahedi hält durch, fährt jeden Morgen zusammen mit einem Kollegen aus Luxemburg und einem Team von einheimischen Helfern in die Slums. Oft ist er als Orthopäde gefragt. Dann renkt er Hüften wieder ein, richtet Wirbelsäulen, korrigiert Schiefstellungen. Operieren kann er nicht, das lassen die Umstände nicht zu. Doch wer operiert werden muss, wird ins Krankenhaus geschickt – das Komitee übernimmt die Kosten.

Zu den regelmäßigen Patienten der deutschen Ärzte gehört auch Rehena. Als Dr. Zahedi ihr geholfen hat, geht sie den schmalen Weg zurück. Die 17-Jährige biegt um ein paar Ecken und trägt ihren zweijährigen Sohn Rahian zurück in ihre Hütte. Die ist so groß wie in Deutschland ein durchschnittliches Ehebett. Rehena lebt dort zusammen mit ihrem Mann Mohammed Shoel. Zehn bis 15 Taka verdient Rehena pro Tag mit Näharbeiten. Das sind gut 20 Cent.

Ob sie Träume hat? Rehenas Augen beginnen zu leuchten. „Ja“, sagt sie, „wir hoffen auf ein besseres Leben. Wir möchten hier wegziehen, genug Geld verdienen, genug zu essen und bessere Kleidung haben.“ Ist ihr Ziel erreichbar? Da schüttelt Rehena traurig den Kopf. „Es könnte gehen. Aber mein Mann ist zu faul.“

Das macht Ehemann Shoel verlegen. Warum arbeitet er heute nicht? Shoel nuschelt, er sei krank. Außerdem habe er vorgestern 150 Taka, etwa drei Euro, mit nach Hause gebracht, das ist Rekord. Da sieht er heute keine Notwendigkeit, wieder auf eine Rikscha zu steigen und sich ins Zeug zu legen. „Das ist ein harter Job“, sagt der etwa 23-Jährige. „Aber ich kann nichts anderes.“

Zurück bei den Ärzten. Gegen 13 Uhr ist der letzte Patient versorgt. Das Team packt das Material zusammen, die restlichen Medikamente, dann geht’s den schmalen Weg zurück hinauf auf die Straße neben den Gleisen. Heute Nachmittag machen sie in Manda Station. Wieder ein Slum von Dhaka.



Die „Rallye Dhaka“

Verkehr in der Hauptstadt: Ein liebenswertes Chaos

Mr. Harun setzt den Blinker und zieht rüber. Der Gegenverkehr bremst und hupt, Mr. Harun hupt auch. Er will in die Nebenstraße abbiegen, doch aus der Nebenstraße zwängt sich auf ganzer Breite ein nicht enden wollendes Gewirr von Fahrrad-Rikschas. Längst ist die Lücke hinter Mr. Haruns Bulli vom nachfolgenden Verkehr gestopft. Ein Bus wollte sich vorbeizwängen. Jetzt steckt auch der Bus fest. Für niemanden gibt es mehr ein Vor oder Zu-rück. Das ist die Rallye Dhaka: Der Straßenverkehr ist ein liebenswertes Totalchaos.

An einer Fußgängerbrücke hängt ein Schild. Haltet Euch an die Verkehrsregeln, empfiehlt es in großen Buchstaben. Nur so könne Stau vermieden werden. Schade, dass fast zwei Drittel der Men-schen nicht lesen können. Englisch schon gar nicht. Also scheint es nur eine Verkehrsregel zu geben: Alle fahren eher links.

An jeder Kreuzung stehen Verkehrspolizisten. Aber sie schauen uninteressiert. Den Verkehr regelt selten jemand. Außer diesmal. Der Polizist klopft an Mr. Haruns Scheibe und schreit den Fahrer der deutschen Ärzte an. Er gestikuliert, Mr. Harun solle geradeaus weiterfahren. Aber Mr. Harun will abbie-gen, und zurück kann er eh nicht mehr. Er schreit zurück und dreht das Fenster hoch. Der Polizist schiebt ab, Mr. Harun hupt.

Überhaupt hupen in Dhaka immer alle, aber kei-ner hört hin. Hupen ist hier nur ein Ritual. Aber wo sollen die anderen auch hin? Die Bangladeschis schließen auf, lassen keine Lücke. Alle Fahrzeuge sind verkeilt. Bügel rund um die Karosserien schüt-zen die Autos vor größeren Beulen.

Rund 500.000 Fahrrad-Rikschas wieseln durch Dhaka, und die Leute sagen süffisant, dass die Hälfte der Menschen damit beschäftigt sei, die ande-re Hälfte der Menschen herumzukutschieren. Eine Fahrt auf der Rikscha ist Pfennigkram. Zwei Passa-giere sind zugelassen, aber die Fahrer nehmen auch vier Personen samt Gepäck mit. Ein Kno-chenjob. Denn zwischen den Rikschas fahren Autos, Busse, riesige Lastwagen. Die Luftverschmutzung in Dhaka ist anerkannte Weltspitze. Die Menschen haben Asthma.

Mr. Harun bleibt gelassen. Auf der Kreuzung geht inzwischen nichts mehr. Mit seinem Bulli steht er quer auf der Straße, die je nach Verkehrslage vier- bis siebenspurig befahren wird. Da nimmt sich ein Fahrgast des Busses ein Herz, steigt aus und weist die Autos rund um Mr. Haruns Bulli ein. Er dirigiert die Rikschas durch die knappen Lücken, stoppt die unaufhörlich nachfolgenden Rikschas. Mr. Harun bugsiert den Bulli zentimeterweise in die Neben-straße. Nach einigen Minuten fließt der Verkehr wieder. Mr. Harun hupt zufrieden.


Schulbesuch macht Hoffnung

Private Einrichtungen in Bangladesch verbessern
die Bildung und bringen zudem Lebensfreude

Ein Ventilator unter dem Bastdach quierlt die Luft, die durch die vergitterten Fenster hereinweht. Abdul Kaddea malt Zeichen an die Tafel, die auf einem Tisch in der Ecke steht, und die Schüler rufen die Lösung der Textaufgabe in den Raum. „Thak Acha“, sagt Lehrer Kaddea. „Richtig.“ Die Kinderaugen leuchten.

Eigentlich leuchten die Augen hier selten. Die Menschen im Slumviertel Gandaria im Süden von Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch, sehen keine Zukunft, keine Perspektive, keine Ziele. Ihr Leben verläuft wie jeder Tag: aufwachen, warten, ein-schlafen. Die Blicke sind leer, sie lachen höchstens mit dem Mund. Die Augen bleiben traurig.

Die Schule ist ein Lichtblick. Mohammed Aminul Hoque, der örtliche Koordinator des deutschen Pro-jekts Komitee Ärzte für die Dritte Welt in Frankfurt, hat sie nebenbei gegründet. Mohammed Aminul Hoque, den alle nur „Babul“ nennen, kommt selbst aus ärmlichen Verhältnisse. Doch er lernte als Kind einen Australier kennen, der Mitleid hatte und ihm die Schulbildung finanzierte. Am eigenen Leibe hat Babul so erfahren, wie grundlegend wichtig Bildung ist, um der Armut zu entkommen. Deshalb opfert er heute viel Einsatz und sogar privates Geld. „Den Ärm-sten der Armen helfen“ – das sei sein Lebensziel. „Ich kann dieses Armsein nicht vergessen“, erklärt er. Deshalb habe er viele Gelegenheiten, einen lukrativen Job im Im- und Export anzunehmen, ausgeschlagen. „Da ist etwas das ich tun muss für meine Brüder und Schwestern, für unser Volk.“

In seiner „Par Gandaria Non Governmental Primary School“ hat das Leben der Kinder von Ganda-ria für anderthalb Stunden einen Sinn. Rechnen, schreiben, sogar englisch: Fünf Jahre lang werden die 550 Kinder gefordert. Das Regiment ist strikt, denn Kinder und Eltern sollen die Schule für wichtig nehmen. Fehlt ein Kind drei Tage lang am Stück, werden die Eltern zu einem freundlichen Gespräch gebeten. „Das hier ist kein Spiel“, sagt Babul. Schließlich bekommen die Schüler ein Abschluss-zeugnis, dass sie zum Besucht der weiterführenden Colleges berechtigt.

Eigentlich ist Schulbildung die Aufgabe des Staates. Doch die Kinder aus dem Slum würden auf den regulären Schulen von den Mitschülern niemals akzeptiert, außerdem können sie sich den Besuch gar nicht leisten. Das Schulgeld ist zu teuer, viele müssen arbeiten gehen, um die Familie zu unter-stützen. Babul und seine Schule sind da anders. Kein Schulgeld, dafür sogar mittags ein kostenloses Essen. So macht der Schulbesuch doppelt Sinn: Die Schüler lernen für die Zukunft und bekommen noch eine warme Mahlzeit.

Unterstützung vom Staat bekommt Babul nicht. Im Gegenteil: Als die Regierung im vergangenen Jahr plante, das Slum-Gebiet zu bebauen, rückten eines Tages ohne Ankündigung Bulldozer und Poli-zisten an. Kurz drauf waren alle Hütten platt – die Schule ebenfalls. Samt Mobiliar, samt Akten. Nur die Hoffnung blieb. Die Kinder weinten, aber Babul machte weiter.

Er baute ein neues Schulgebäude mit vier Klas-senzimmern und einem kleinen Raum für die Lehrer. Inzwischen betreibt Babul zwei Schulen. Das zweite Gebäude steht weiter nordöstlich in Dhaka im Stadtteil Khilgoan. Auch hier drücken Grundschüler die kleinen Bänke in niedlichen Klassenräumen, und studierte Lehrer bemühen sich, ihnen die nötigste grundbildung zu vermitteln. „Ich weiß, dass ich ihnen zu wenig Gehalt zahle“, sagt Babul, die Betroffenheit in seinem Blick bleibt in Erinnerung. Aber mehr Geld habe er nicht.

Geld – das ist ein Thema für sich. Viel bringt Ba-bul selbst mit, doch er sammelt auch Spenden. Als örtlicher Koordinator der Arbeit, die deutsche Ärzte für jeweils sechs Wochen in dem Nachbarland von Indien leisten, hat er Kontakte nach Deutschland. Und viele der Mediziner stecken ihm nötige Dollars zu.

Das reicht für den laufenden Betrieb seiner Schulen. Doch Babul hat schon ein nächstes ziel: Er möchte den Schülern ermöglichen, nach der Grund-schule auch das College, vielleicht die Universität zu besuchen. Knapp 200 Dollar brauchen die Schüler dafür. Ob sich in Deutschland Paten finden?

Babul will alles tun für die Zukunft der Kleinsten in Gandaria und Khilgoan. Dabei ist nicht sicher, ob die Kinder wirklich eine Zukunft haben. Die Flucht aus den Slums ist schwierig. Doch schon die Hoff-nung auf den Schritt raus aus dem Slum ist ein Sieg über die Traurigkeit. Die Kinder, die lernen, glauben an die Perspektive und haben die Gelegenheit, selbst etwas dafür zu tun. Dass der Schulbesuch sie fürs Leben stärkt und ihnen Lebensfreude gibt, ist offensichtlich. Es steht in den Augen.